06.04.2021
Fenstersturz: Pflegeheim missachtet seine Schutzpflichten

Ein Pflegeheim hatte einen erkennbar Demenzkranken, bei dem unkalkulierbare Handlungen möglich erschienen, in einem Zimmer untergebracht, aus dessen Fenster er sich problemlos hatte stürzen können. In solch einem Fall ist die Einrichtung bei der Verwirklichung dieser Gefahr zur Haftung verpflichtet. Das hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 14. Januar 2021 entschieden (III ZR 168/19).
Der im Jahr 1950 geborene Ehemann der Klägerin lebte wegen einer hochgradigen Demenzerkrankung seit Februar 2014 in einem Pflegeheim. Dort wurde er in einem Wohnraum untergebracht, der sich im Obergeschoss des Heims befand. Seine Fenster waren leicht zugänglich und einfach zu öffnen.
Am Nachmittag des 27. Juli 2014 stürzte der Heimbewohner aus einem der beiden Fenster. Dabei erlitt er schwere Verletzungen und verstarb anschließend trotz mehrerer Operationen und Heilbehandlungen Mitte Oktober des Jahres in einem Krankenhaus.
Keine geeigneten Schutzmaßnahmen für Demenzkranken?
Die Ehefrau des Verstorbenen warf den Verantwortlichen des Pflegeheims vor, keine geeigneten Schutzmaßnahmen ergriffen zu haben, um den Sturz aus dem Fenster zu verhindern. Die seien trotz der bekannten Lauftendenz mit Selbstgefährdung und Sinnestäuschungen sowie der damit verbundenen Notwendigkeit, ihren Mann besonders zu betreuen, nicht vorgenommen worden.
Ihr Ehemann sei gerade aufgrund seiner Demenz mit Gedächtnisstörungen in der Einrichtung der Beklagten untergebracht worden. Vor diesem Hintergrund stelle die Unterbringung im dritten Obergeschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung dar.
Die Witwe verklagte das Pflegeheim daher darauf, ihr ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 Euro zu zahlen.
Erfolgreiche Revision vor dem Bundesgerichtshof
Damit hatte die Witwe zunächst keinen Erfolg. Ihre Klage wurde sowohl vom Landgericht Bochum, als auch von dem in Berufung mit dem Fall befassten Hammer Oberlandesgericht als unbegründet zurückgewiesen. Nach deren Ansicht habe sich der Fenstersturz im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet. Der sei grundsätzlich der eigenverantwortlichen Risikosphäre von Heimbewohnern zuzurechnen.
Dieser Argumentation wollte sich der von der Klägerin in Revision angerufene Bundesgerichtshof (BGH) nicht anschließen. Er gab dem Rechtsmittel statt und wies den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Nach Ansicht des BGH ist ein Heimbetreiber grundsätzlich dazu verpflichtet, die ihm anvertrauten Bewohner unter Wahrung von Würde und Selbstbestimmungsrecht vor Gefahren zu schützen, die sie nicht selbst beherrschen. Dabei komme es auf die Umstände des Einzelfalls an.
Sicherungspflichten des Heimträgers begründet
Maßgebend sei, ob wegen der körperlichen und geistigen Verfassung des Pflegebedürftigen aus rückschauender Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte.
Dabei müsse folgendem Umstand Rechnung getragen werden: Bereits eine Gefahr, die sich wahrscheinlich nicht verwirklichen wird, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, sei dazu geeignet, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen.
„Dementsprechend darf bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem zumal im Obergeschoss gelegenen Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden“, so der Bundesgerichtshof.
Vorbeugende Sicherungsmaßnahmen seien nur dann nicht erforderlich, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung bestünden.
Heimleitung hat nicht ausreichend reagiert
Der Verstorbene habe schon bei Beginn seines Aufenthalts in dem Pflegeheim erkennbar unter schweren Demenzerscheinungen gelitten. Daher konnten unkontrollierte, unkalkulierbare selbstschädigende Handlungen infolge von Desorientierung und Sinnestäuschung nach Ansicht der Richter nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Darauf habe die Heimleitung offenkundig nicht ausreichend reagiert.
In einem neuen Verfahren müsse das Berufungsgericht im Rahmen einer medizinischen Risikoprognose das gesamte Krankheitsbild des Verstorbenen sorgfältig bewerten. Insbesondere müsse dabei auch seine durch ausgeprägte Demenzerscheinungen gekennzeichnete geistige und körperliche Verfassung berücksichtigt werden.
(Quelle VersicherungsJournal 18.01.2021)
Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling
- Versicherungsmakler-
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